Herbst 2012:
Ich saß nach einem langen Arbeitstag auf einer kalten Holzbank in einer S-Bahn Station. Meinen Mantel bis oben hin geschlossen, ein Käppchen auf dem Kopf und gegen kalte Ohren große Kopfhörer, die mich mit E-Gitarren geladener Musik berieselten. Ein weiterer angenehmer Nebeneffekt: Wenn Leute sehen, dass man nix hört – bzw. seine Lieblingsmusik – sprechen sie einen nicht an. Für gewöhnlich...
Ich saß nach einem langen Arbeitstag auf einer kalten Holzbank in einer S-Bahn Station. Meinen Mantel bis oben hin geschlossen, ein Käppchen auf dem Kopf und gegen kalte Ohren große Kopfhörer, die mich mit E-Gitarren geladener Musik berieselten. Ein weiterer angenehmer Nebeneffekt: Wenn Leute sehen, dass man nix hört – bzw. seine Lieblingsmusik – sprechen sie einen nicht an. Für gewöhnlich...
In meinen Händen hielt ich den vierten Band
der „A Song of Ice and Fire“ Serie von George R.R. Martin. Der Vierte ist etwas
zäh zu lesen, aber war gerade erstaunlicherweise recht spannend, und ich
dementsprechend vertieft.
Da setzte sich eine Gestalt rechts neben mich
und quetschte ihre Einkaufssackerl zwischen uns. Aus dem Augenwinkel bemerkte
ich, dass mich die Dame offensichtlich anstarrte. Mein Blick blieb, die
Beobachterin ignorierend, auf das Buch gerichtet. Konzentriert las ich weiter.
Schließlich fuchtelte sie mit ihren Fingern
vor meinen Augen herum.
Es soll schon einmal vorgekommen sein, dass
ich völlig vertieft an mir bekannten Personen vorbeilief oder in der U-Bahn
neben einer saß, ohne es zu bemerken. Mein erster Gedanke war also: vielleicht
eine Kundin von mir, die sich bemerkbar machen will?
Freundlich lächelnd blickte ich auf und sah
sie an. Eine mir völlig unbekannte ältere Dame, geschätzt zwischen 55 und 60
Jahren alt, mit blondierter Dauerwelle und Pelzhäubchen sprach irgendetwas mit
mir, meine Kopfhörer gekonnt ignorierend. Na vielleicht wollte sie nach dem Weg
fragen? Hilfsbereit schob ich meine Kopfhörer von meinen Ohren und lauschte
neugierig ihrer Frage.
Sie deutete aufgeregt auf mein Nasenpiercing,
welches wie so oft aus einem Triskel-Silberstecker in bestand.
„Warum hast du das gemacht?“, fragte sie mit
einem Akzent, den ich nicht ganz zuordnen konnte.
„Weil es mir gefällt.“ Lächeln...
„NEIN! Das ist hässlich!“
„Doch, mir gefällt es. Geschmäcker sind ja
verschieden. Ist okay, wenn es Ihnen nicht gefällt.“
Dann fiel ihr Blick plötzlich auf mein Ohr,
das auch des Öfteren durchstochen ist. Ohne Kopfhörer sah man das ja jetzt.
„Oh nein, und dein Ohr! Wieso hast du das auch
gemacht?!“, fragte sie noch aufgebrachter, kurz vor dem Herzinfarkt. Ich drehte
mein Gesicht frontal in ihre Richtung und begann wieder zu erklären.
„Naja, das ist ganz normaler Schmuck, und mir
gefällt es so. Geschmäcker sind verschieden.“
Schließlich entdeckte sie, dass die linke
Seite meiner Unterlippe auch einen Ring beherbergt, den sie davor aus der ¾
Ansicht nicht gesehen hatte. Bestürzt schlug sie die Hände vors Gesicht.
„Nein! Und deine Lippe! Wie kannst du damit...
küssen?“
„Wie alt bist du denn?“
„24.“
„Meine Tochter ist 25, und macht gerade
Abschluss auf der Wirtschaftsuni! Aber ich bin froh, dass sie so etwas nicht
hat!“
Seufzen meinerseits.
„Was machst du?“
„Wie?“ Ich sitze und lese...?
„Beruflich!“
„Ich bin Nageldesignerin und studiere.“
„Aha... was?“ Verdammt, doch kein Junkie?
„Sprachwissenschaft und Archäologie über die
Kelten.“
Jetzt, da sie über meine Akademische Laufbahn
aufgeklärt war, verstand sie noch weniger meine Affinität zu Chirurgenstahl in
meinem Gesicht.
„Aber warum hast du diese Piercings? Die sind
hässlich! Das kommt alles aus Afrika, das ist primitiv!“
„Äh, Entschuldigung, aber das ist sicher nicht
primitiv, das hat dort alles eine gesellschaftliche Bedeutung...“
„Doch, das ist primitiv! Das kommt aus
Afrika!“
„Aber die Menschen haben immer schon ihre
Körper verändert, das ist nichts Ungewöhnliches!“
„Nein! Da brauchst du mir nix erzählen, ich
bin Historikerin! Das kommt aus Afrika und ist primitiv, das machen die Stämme
dort! Aber wir leben im Europa des 21.Jahrhunderts! Wir haben hier so was nie
gemacht!“
Ich war bestürzt.
Ihr lustiger Akzent, mit dem sie „Afrika“ mit
retroflexem R aussprach, ließ ihren Hass gegen dieses Land irgendwie lächerlich
klingen.
Ich befand mich im Zwiespalt. Sollte ich
einfach meine Kopfhörer wieder aufsetzen, weiter lesen und diese blöde Kuh
ignorieren?
Oder sollte ich mir weiter ihre einseitige
Argumentation anhören, während sie meine ständig unterbrach, und mich über ihre
Intoleranz amüsieren?
Also noch einmal.
„Hören Sie bitte, das ist nicht primitiv, das
ist Körperschmuck und ...“
„Nein, das ist,... das,... Wie kannst du damit
atmen? Wie kannst du damit essen?“
„Das geht alles ganz normal und problemlos,
und...“
„Aber wie bekommt man das sauber? Igitt.“
„Also...“
„Und das Ohr! Das ist ja alles ganz schlecht
für die Gesundheit!“
„Nein, also ich habe keine gesundheitlichen Probleme!“
Hallo, ich arbeite seit über einem Jahr ohne auch nur einmal im Krankenstand
gewesen zu sein...!
„Aber das machen die Leute doch nur, damit sie
Geld verdienen, verstehst du? Diese Piercer, die wollen doch nur Geld damit
verdienen!“
„Ja, das ist doch okay so, jeder muss
irgendwie Geld...“
„Nein, also das ist schrecklich! Hast du auch
Tätowierungen?“
„Ja!“ Triumphales Grinsen von meiner Seite.
Auf diese Frage hab ich ja gewartet...
Die S45 fuhr ein.
Schockiert packte die Dame ihre Sachen
zusammen und stand fluchtartig auf.
„Nein, oh mein Gott, Tätowierungen auch noch!
Na zum Glück bist du nicht meine Tochter!“
„Ja, zum Glück, DA haben Sie Recht!“, sagte
ich zufrieden und stand auch auf.
Sie lief weit nach rechts, nur schnell weg von
mir und hastete in die Bahn. Ich ging grinsend zu einem der linken Eingänge. Ob
sie sich dieser Ironie auch bewusst war?
Prinzipiell habe ich schon vielen Leuten, jung
und alt, ausführlich erklärt warum, wieso, weshalb. Der Unterschied war immer:
Diese Leute wollten auch hören was ich zu sagen hatte. Solche Unterhaltungen
endeten meistens damit, dass es denjenigen zwar nachher nicht besser gefallen
hat, aber sie meine Piercings zumindest akzeptierten und mich weiterhin gern
haben. Gleiches Spiel bei den Tattoos.
Und ganz ehrlich, da rennen in Wien echt noch
ärger gepiercte Leute herum, warum also die Aufregung über mich?
Vielleicht hätte ich ihr einfach sagen sollen:
„Ich habe die Piercings und Tattoos eigentlich nur, damit ich Leute wie Sie
damit schockiere und Sie sich drüber echauffieren können!“
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