Montag, 16. März 2015

Die Piercing-Rassistin

Herbst 2012:

Ich saß nach einem langen Arbeitstag auf einer kalten Holzbank in einer S-Bahn Station. Meinen Mantel bis oben hin geschlossen, ein Käppchen auf dem Kopf und gegen kalte Ohren große Kopfhörer, die mich mit E-Gitarren geladener Musik berieselten. Ein weiterer angenehmer Nebeneffekt: Wenn Leute sehen, dass man nix hört – bzw. seine Lieblingsmusik – sprechen sie einen nicht an. Für gewöhnlich...
In meinen Händen hielt ich den vierten Band der „A Song of Ice and Fire“ Serie von George R.R. Martin. Der Vierte ist etwas zäh zu lesen, aber war gerade erstaunlicherweise recht spannend, und ich dementsprechend vertieft.

Da setzte sich eine Gestalt rechts neben mich und quetschte ihre Einkaufssackerl zwischen uns. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass mich die Dame offensichtlich anstarrte. Mein Blick blieb, die Beobachterin ignorierend, auf das Buch gerichtet. Konzentriert las ich weiter.
Schließlich fuchtelte sie mit ihren Fingern vor meinen Augen herum.
Es soll schon einmal vorgekommen sein, dass ich völlig vertieft an mir bekannten Personen vorbeilief oder in der U-Bahn neben einer saß, ohne es zu bemerken. Mein erster Gedanke war also: vielleicht eine Kundin von mir, die sich bemerkbar machen will?
Freundlich lächelnd blickte ich auf und sah sie an. Eine mir völlig unbekannte ältere Dame, geschätzt zwischen 55 und 60 Jahren alt, mit blondierter Dauerwelle und Pelzhäubchen sprach irgendetwas mit mir, meine Kopfhörer gekonnt ignorierend. Na vielleicht wollte sie nach dem Weg fragen? Hilfsbereit schob ich meine Kopfhörer von meinen Ohren und lauschte neugierig ihrer Frage.
Sie deutete aufgeregt auf mein Nasenpiercing, welches wie so oft aus einem Triskel-Silberstecker in bestand.
„Warum hast du das gemacht?“, fragte sie mit einem Akzent, den ich nicht ganz zuordnen konnte.
„Weil es mir gefällt.“ Lächeln...
„NEIN! Das ist hässlich!“
„Doch, mir gefällt es. Geschmäcker sind ja verschieden. Ist okay, wenn es Ihnen nicht gefällt.“
Dann fiel ihr Blick plötzlich auf mein Ohr, das auch des Öfteren durchstochen ist. Ohne Kopfhörer sah man das ja jetzt.
„Oh nein, und dein Ohr! Wieso hast du das auch gemacht?!“, fragte sie noch aufgebrachter, kurz vor dem Herzinfarkt. Ich drehte mein Gesicht frontal in ihre Richtung und begann wieder zu erklären.
„Naja, das ist ganz normaler Schmuck, und mir gefällt es so. Geschmäcker sind verschieden.“
Schließlich entdeckte sie, dass die linke Seite meiner Unterlippe auch einen Ring beherbergt, den sie davor aus der ¾ Ansicht nicht gesehen hatte. Bestürzt schlug sie die Hände vors Gesicht.
„Nein! Und deine Lippe! Wie kannst du damit... küssen?“
„Das geht ganz hervorragend.“



„Wie alt bist du denn?“
„24.“
„Meine Tochter ist 25, und macht gerade Abschluss auf der Wirtschaftsuni! Aber ich bin froh, dass sie so etwas nicht hat!“
Seufzen meinerseits.
„Was machst du?“
„Wie?“ Ich sitze und lese...?
„Beruflich!“
„Ich bin Nageldesignerin und studiere.“
„Aha... was?“ Verdammt, doch kein Junkie?
„Sprachwissenschaft und Archäologie über die Kelten.“
Jetzt, da sie über meine Akademische Laufbahn aufgeklärt war, verstand sie noch weniger meine Affinität zu Chirurgenstahl in meinem Gesicht.
„Aber warum hast du diese Piercings? Die sind hässlich! Das kommt alles aus Afrika, das ist primitiv!“
„Äh, Entschuldigung, aber das ist sicher nicht primitiv, das hat dort alles eine gesellschaftliche Bedeutung...“
„Doch, das ist primitiv! Das kommt aus Afrika!“
„Aber die Menschen haben immer schon ihre Körper verändert, das ist nichts Ungewöhnliches!“
„Nein! Da brauchst du mir nix erzählen, ich bin Historikerin! Das kommt aus Afrika und ist primitiv, das machen die Stämme dort! Aber wir leben im Europa des 21.Jahrhunderts! Wir haben hier so was nie gemacht!“
Ich war bestürzt.
Ihr lustiger Akzent, mit dem sie „Afrika“ mit retroflexem R aussprach, ließ ihren Hass gegen dieses Land irgendwie lächerlich klingen.
Ich befand mich im Zwiespalt. Sollte ich einfach meine Kopfhörer wieder aufsetzen, weiter lesen und diese blöde Kuh ignorieren?
Oder sollte ich mir weiter ihre einseitige Argumentation anhören, während sie meine ständig unterbrach, und mich über ihre Intoleranz amüsieren?
Also noch einmal.
„Hören Sie bitte, das ist nicht primitiv, das ist Körperschmuck und ...“
„Nein, das ist,... das,... Wie kannst du damit atmen? Wie kannst du damit essen?“
„Das geht alles ganz normal und problemlos, und...“
„Aber wie bekommt man das sauber? Igitt.“
„Also...“
„Und das Ohr! Das ist ja alles ganz schlecht für die Gesundheit!“
„Nein, also ich habe keine gesundheitlichen Probleme!“ Hallo, ich arbeite seit über einem Jahr ohne auch nur einmal im Krankenstand gewesen zu sein...!
„Aber das machen die Leute doch nur, damit sie Geld verdienen, verstehst du? Diese Piercer, die wollen doch nur Geld damit verdienen!“
„Ja, das ist doch okay so, jeder muss irgendwie Geld...“
„Nein, also das ist schrecklich! Hast du auch Tätowierungen?“
„Ja!“ Triumphales Grinsen von meiner Seite. Auf diese Frage hab ich ja gewartet...
Die S45 fuhr ein.
Schockiert packte die Dame ihre Sachen zusammen und stand fluchtartig auf.
„Nein, oh mein Gott, Tätowierungen auch noch! Na zum Glück bist du nicht meine Tochter!“
„Ja, zum Glück, DA haben Sie Recht!“, sagte ich zufrieden und stand auch auf.
Sie lief weit nach rechts, nur schnell weg von mir und hastete in die Bahn. Ich ging grinsend zu einem der linken Eingänge. Ob sie sich dieser Ironie auch bewusst war?

Prinzipiell habe ich schon vielen Leuten, jung und alt, ausführlich erklärt warum, wieso, weshalb. Der Unterschied war immer: Diese Leute wollten auch hören was ich zu sagen hatte. Solche Unterhaltungen endeten meistens damit, dass es denjenigen zwar nachher nicht besser gefallen hat, aber sie meine Piercings zumindest akzeptierten und mich weiterhin gern haben. Gleiches Spiel bei den Tattoos.
Und ganz ehrlich, da rennen in Wien echt noch ärger gepiercte Leute herum, warum also die Aufregung über mich?
Vielleicht hätte ich ihr einfach sagen sollen: „Ich habe die Piercings und Tattoos eigentlich nur, damit ich Leute wie Sie damit schockiere und Sie sich drüber echauffieren können!“


Shrew you!

Erzblume.







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