Montag, 16. März 2015

Die Bestattung des Jolly Roger

niedergeschrieben irgendwann 2011:

Dies ist die Geschichte von Jolly Roger, 

geboren im November 2003, gestorben im Juli 2010. „Nicht sehr alt.“, möchte man als Leser meinen, jedoch war Jolly Roger schon ein rechter Greis zur Zeit seines Ablebens.
Er war ein Meerschwein.
Gerne würde ich jetzt von sieben Jahren voll besonderer Erlebnisse als Meerschweinchen in seinem Käfig berichten, doch der Grund warum ich hier beginne zu schreiben ist in der Tat die Art und Weise seiner Bestattung.

„Oh nein, eine traurige Geschichte, voller Tränen und Schluchzen!“, könnte man jetzt befürchten. Doch die makabere Wahrheit wird so aussehen:
Du wirst lachen.

Der Vollständigkeit halber beginne ich bei seiner Geburt: Jolly erblickte mit seinen Geschwistern Luigi und Aphrodite das Licht der Welt, in einem 12 Quadratmeter großen Kinderzimmer einer Wiener Gymnasiastin. Die meerschweinischen Eltern Charlie und Siggi Braun gingen brav ihren Pflichten nach. Als Aphrodite alt genug war, wurde sie an eine liebe neue Familie verschenkt. Im zweiten Wurf von den fleißigen Meerschweinchen fanden sich die Mädchen Maronne und Chiara mit ihrem Bruder Wuzl, der ebenso wie Aphrodite verschenkt wurde. Somit blieben drei Pärchen übrig, eine reizende Großfamilie im Jugendzimmer einer glücklichen Meerschweinchen-Mama. Als die weniger brave Gymnasiastin die Matura in der Tasche hatte, waren Mami Siggi und Papa Charlie bereits verstorben und außerhalb Wiens liebevoll vergraben worden, nachdem der Tiefkühler sie bis zum Begräbnis frisch gehalten hatte.
Nicht haustierliebende Mitmenschen verstehen so eine Art der Aufbewahrung toter Tiere nicht, und auch der mit Freude kochende Stiefvater reagierte jeweils verstört auf tiefgekühlte Nagetiere neben seinen kostbaren Nahrungsmitteln.
Schließlich beschloss die Maturantin, mitsamt dem Meerschweinchen-Pärchen Jolly und Maronne, sowie der ebenso erworbenen Löwenkopfkaninchen-Dame Sayoko in das schöne Tirol zu ziehen, um dort die Glasfachschule zu besuchen. Zu Jolly und Maronne hatte das Mädchen jedoch immer weniger Bezug, denn Kaninchen Sayoko war etwas liebenswerter und weniger verschreckt. Außerdem war sie stumm, und die Meerschweinchen mit ihrem penetranten Gequietsche überforderten die ohnehin schon überforderte Nestflüchterin in ihrem Erste-Eigene-Wohnung-Chaos. Deswegen wurden sie manchmal ins Badezimmer gesperrt.
Nach einem Jahr Tirol kam die eigenwillige, selbsternannte Künstlerin wieder nach Wien und lieferte die Meerschweinchen erleichtert wieder bei deren Geschwistern, in ihrem Elternhaus ab. Das süße Kaninchen durfte sich wegen Platzmangel in der neuen Wohnung, fortan ein wildtiergerechtes Gehege mit anderen Kaninchen und einem Hängebauchschwein außerhalb Wiens teilen.
Nach einer Phase der Selbstfindung, Beziehungsbeendung und Wiederfindung der Haustierliebe, nahm die mittlerweile Keltologie studierende, junge Dame ihren Jolly wieder bei sich auf. Maronne und Chiara waren bereits über die Regenbogenbrücke gegangen, und die verbleibenden Brüder Luigi und Jolly hätten sich gegenseitig am Liebsten zerfleischt.
So lebte Jolly noch zwei mehr oder weniger glückliche Jahre als Einzelgänger in seinem Käfig. Die junge Keltologin hatte sich zwischenzeitlich auch endlich ihre heißersehnten Katzen in die Wohnung geholt, und mitsamt neuem Mann an ihrer Seite nur noch wenig Zuneigung für das Meerschweinchen Jolly Roger - welcher trotz neuem, piratigem Beinamen ein langweiliger Häuschen-Hocker blieb.
Im Sommer 2010 während einer Möbel-Umstellaktion (welche sich im Leben des Keltologen-Pärchens zu regelmäßigen Ritualen etablierten), zeichneten sich jedoch plötzlich Anzeichen eines baldigen Ablebens des Jolly Rogers ab. Die tränenreichen Befürchtungen der Studierenden bewahrheiteten sich, und nach sieben Jahren war der Tod dieses vorletzten Vertreters ihrer Meerschweinchen-Dynastie trauriger als erwartet.

Und hier beginnt auch die eigentliche Geschichte, begleitet von argen Schuldgefühlen Jolly Roger vernachlässigt zu haben und dem Vorsatz, er hätte etwas Besseres verdient als seine Vorgänger.
Als Keltologe wird man von allen Seiten sowieso für verrückt gehalten. Das Themengebiet wird zwar als äußerst interessant betrachtet, aber die Tatsache es auch ernsthaft zu studieren wird mit erstaunten Blicken kommentiert. Und der Frage „Was macht man dann damit?“
Eine (von vielen!) aufschlussreiche Antwort auf diese Frage lautet: Man erweist seinem Meerschweinchen nach „keltischer“ Tradition mit einer Brandbestattung die letzte Ehre.
Doch zuerst wanderte Jolly Roger in einen Tiefkühlbeutel der Marke „Nehmen wir einfach die Billigsten“ und in weiterer Folge in das Tiefkühlfach.
Am Wochenende darauf fand nämlich in der Heimatstadt ihrer Großmutter der sogenannte Bierkirtag statt, zu dem das Keltologen-Pärchen fahren wollte. Und es wollte die Gelegenheit gleich nutzen, um Jolly Roger den Weg zu seinen Familienmitgliedern zu bahnen. Oder zumindest seinen flauschigen Körper zu entsorgen, der im Tiefkühlfach wertvollen Platz einnahm welcher eigentlich für Pizzen reserviert war.

Einige Wochen zuvor besuchten die zwei Keltologen die allseits beliebte Veranstaltung namens „Experimentelle Archäologie“ im Freiluftteil des Niederösterreichischen Ur- und Frühgeschichte Museums. Eines der Experimente dort sollte Aufschluss darüber bieten, wie eine Brandbestattung nach eisenzeitlichen Riten abgelaufen war und in welchem Zustand sich Grabbeigaben nach dem verbrennen befanden. Inklusive Aufbau eines Scheiterhaufens, Platzieren von Grabbeigaben wie Keramiken, Blumen und so weiter. Verbrannt wurden tote Katzen, die ein Bauer freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte, da es in Österreich ziemlich schwer ist legal an halbwegs große, knochenreiche und vor allem tote Tiere zu kommen.
Nach diesem riesigen, wärmenden Feuer, wurden Knochenreste und Überbleibsel der Grabbeigaben herausgesucht, besichtigt und separat bestattet, also platzsparend eingegraben.
Das war also die Vorlage für Jolly Rogers Bestattung.

Der Plan sah folgendermaßen aus: die ambitionierte Keltologin wollte irgendwo in der waldviertler Botanik ein Lagerfeuer errichten, würdig einen Jolly Roger zu verbrennen. Dieser wurde bereits in eine kleine Schuhschachtel umgebettet. Als Grabbeigabe würde er ein selbstgefertigtes Keramikgefäß nach eisenzeitlicher Vorlage erhalten. Dieses wurde zwei Jahre zuvor ebenfalls bei einer „Experimentellen Archäologie“ angefertigt und diente Jolly lange als Trockenfutterschüssel. Hiermit wäre die Stelle des Gefäßes und des Essens-Vorrats also besetzt gewesen. Weitere Beigaben sollten aus Blumen und potenziell essbaren Pflanzen bestehen.

Angekommen im hübschen waldviertler Städtchen stellte sich heraus, dass es schier unmöglich war irgendwo einen Ort zu finden, an dem man ungestört sein Meerschweinchen verbrennen konnte (abgesehen vom öffentlichen Grillplatz neben dem Badeteich). Der Notfallplan beinhaltete also einen Kugelgrill und Omas Terrasse. Die zukünftige Bestatterin kraxelte also auf den Dachboden um einen, erwarteter Weise alten und rostigen Grill zu bergen, der Jolly die letzte Ehre erweisen sollte. Zum Vorschein kam jedoch ein neuer vermutlich ziemlich teurer – weil vom Stiefvater, seines Zeichens Hobbykoch, gekaufter – Grill in hübschem Rot lackiert.
Kurze Zweifel wurden mit etwas Kirtags-Bier hinweggespült und Jollys Krematorium gebaut.
Dazu wurden Holzscheite für den Kaminofen im Haus geholt, sowie einige kleinere Späne zum Anzünden. Jolly Roger in seiner Dead-Man´s-Chest wurde liebevoll darauf drapiert und zur Sicherheit mit einer halben Flasche Spiritus übergossen. Irgendwie konnte die junge Dame ihrem lieben Haustier nicht mehr in die milchigen weil toten Augen schauen.
Jollys eisenzeitliche Tonschalen-Replik wurde mit Löwenzahn und anderem, undefinierbaren, aber bestimmt leckeren Unkraut gefüllt – zum Glück wuchs genug davon in den geschätzten hundert Blumentöpfen der Oma auf der Terrasse.
Mit extra großen „Licht ins Dunkel – Ist da jemand?“ Streichhölzern wurde der Scheiterhaufen schließlich andächtig angezündet. Die Stichflamme, welche fast Haare und Bart des Keltologen-Pärchens angesengt hatte, erlosch bald, und die dicken Holzscheite kokelten nur zögerlich vor sich hin. Nach weiteren Spritzern Spiritus und der Beigabe von anderen Grillanzünder-Fabrikaten, war die Schuhschachtel nur noch dünne Aschefetzen, die in der Sommerluft herumflogen. Jolly Roger lag also schließlich doch sichtbar auf dem Holz und brach der Studentin das Herz. Sein hübsches, rotbraunes Fell stellte sich als äußerst brennfreudig heraus. Aber sobald es verbrannt und Jolly nur noch ein schwarzes Nackt-Meerschweinchen war, gingen die Flammen wieder ihrem Ende zu.

„Verdammt!!! Auf der „Experimentellen“ haben wir ganze Katzen verbrannt, wieso schaffen wir es nicht ein blödes Meerschweinchen zu verbrennen?!“

Verärgert und grübelnd wurden weitere Grillanzünder in den schönen roten Grill geworfen und eine neue Flasche Spiritus geöffnet. Dem männlichen Part des Keltologen-Pärchens machte es sichtlich Spaß herum zu Zündeln, während die Meerschweinchen-Mama kurz vorm Nervenzusammenbruch stand.
So schön war die Idee der eisenzeitlichen Brandbestattung gewesen. So bitter das Resultat zweier ratloser Studenten vorm Kugelgrill.
Schließlich fing alles halbwegs so Feuer, wie geplant. Meerschweinchen Jolly war auch bald nicht mehr als solches zu erkennen und der Anblick somit etwas erträglicher.

Nachdem der Scheiterhaufen und Jolly Roger fast vollständig verbrannt waren, waren die beiden Keltologen doch ein kleines bisschen stolz auf sich. Mit hoch wissenschaftlichem Blick wurde nun festgestellt, dass die mit Spiritus- und Grillanzündern getränkten Flammen im Kugelgrill nicht heiß genug waren um das Tongefäß zu zerstören oder Risse entstehen zu lassen. Es lag noch vollständig zwischen Asche und Kohle, war lediglich rußgeschwärzt.
Wenn alles abgekühlt war, wollten die beiden also die Knochenreste Jolly Rogers einsammeln und in das Gefäß füllen, worin sie ihn dann irgendwo im Boden eingraben würden...

Aber bis alles abgekühlt war, würde es sicher noch eine Weile dauern. Also wurde die Zeit genutzt, um sich am Stadtplatz voller Bierfreunde noch ein, zwei Krügerl zu genehmigen und mit Oma und ihren Freundinnen zu plaudern.
Nach den ersten erleichterten Schlücken überfiel ein Platzregen den Kirtag und alle flüchteten unter rettende Zelte oder Schirme. In dieser ganzen Aufregung, und weil die zwei Keltologe in Sicherheit und mit Bier versorgt waren, vergaßen sie jedoch auf den Griller auf der Terrasse... und weitere Regenschauer folgten.

Als es schon fast dunkel und somit recht spät war, trauten sich die beiden erstmals wieder einen Blick auf die Terrasse zu werfen. Die ehemalige Meerschweinchen-Mama hätte am Liebsten einen hysterischen Schreianfall bekommen: der Kugelgrill war bis obenhin mit Regenwasser gefüllt. Dem nicht genug, war er zuvor offensichtlich übergegangen und die Hälfte der aufgeschwemmten Asche mit dem Regenwasser quer über die Terrasse in Richtung Dachrinne geflossen. Das hatte einen grauschwarzen Film am weißen Fliesenboden hinterlassen.
Verzweifelt beschlossen sie, mit der Aufräumaktion des armen, verbrannten, ertränkten und weggespülten Jolly Rogers bis zum nächsten Tag zu warten.

Wenn man nicht weiß ob man lachen oder weinen soll, ist es am Besten einfach zu lachen und einen Gartenschlauch zur Hilfe zu holen. Die Keltologin wühlte im Asche-Regen-Gatsch herum und fand tatsächlich noch Knochen ihres süßen Meerschweinchens, die sie akribisch im Tonschüsselchen sammelte. Als sie fertig war, holte sie einen Müllsack, in den sie die anderen unverbrannten Holzscheite und Kohlebrocken füllte. Dann trat ihr Liebster mit dem Gartenschlauch in Aktion, der den Griller ausspülte, außen abwusch und die Terrasse abspritzte, während sie mit einem Besen nachhalf alles in die Dachrinne zu kehren.

Jolly Rogers Überreste samt eisenzeitlicher Tongefäß-Replik wanderten erneut in einen Plastiksack. Zuvor wurden sie aber verschwenderisch oft in Alufolie gewickelt. Aufgrund von akuter Zeitnot und dem Wunsch ihren Zug nach Hause zu erwischen, blieb keine Zeit mehr eine nette Stelle in der Botanik zu finden, wo man Jolly hätte begraben können. Zumal war alles von den Regenfällen der letzten Nacht aufgeweicht.  Also traten Jolly Rogers sterbliche Überreste und sein angekokeltes Futterschüsselchen ihre Reise wieder nach Wien an.

Die eindeutig untalentierte Brandbestatterin stellte das Gefäß, in Alufolie, in Plastiksack im Arbeitszimmer aufs Fensterbrett. Das nächste Mal, wenn sie irgendwohin kam, wo man es vergraben könne, würde sie es tun.
Ganz sicher!

Nach einem halben Jahr angewiderten Duldens dieses Pakets auf dem Fensterbrett, nahm der vernünftige, männliche Teil des Pärchens Jolly Rogers letzte Ruhestätte an sich...

und warf sie in den Mistkübel.


Shrew you!

Erzblume.

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