niedergeschrieben irgendwann 2011:
Dies ist die Geschichte von Jolly Roger,
geboren im November 2003, gestorben im Juli 2010. „Nicht sehr alt.“, möchte man
als Leser meinen, jedoch war Jolly Roger schon ein rechter Greis zur Zeit
seines Ablebens.
Er war ein Meerschwein.
Gerne würde ich jetzt von sieben Jahren voll
besonderer Erlebnisse als Meerschweinchen in seinem Käfig berichten, doch der
Grund warum ich hier beginne zu schreiben ist in der Tat die Art und Weise
seiner Bestattung.
„Oh nein, eine traurige Geschichte, voller
Tränen und Schluchzen!“, könnte man jetzt befürchten. Doch die makabere
Wahrheit wird so aussehen:
Du wirst lachen.
Der Vollständigkeit halber beginne ich bei
seiner Geburt: Jolly erblickte mit seinen Geschwistern Luigi und Aphrodite das
Licht der Welt, in einem 12 Quadratmeter großen Kinderzimmer einer Wiener
Gymnasiastin. Die meerschweinischen Eltern Charlie und Siggi Braun gingen brav
ihren Pflichten nach. Als Aphrodite alt genug war, wurde sie an eine liebe neue
Familie verschenkt. Im zweiten Wurf von den fleißigen Meerschweinchen fanden
sich die Mädchen Maronne und Chiara mit ihrem Bruder Wuzl, der ebenso wie
Aphrodite verschenkt wurde. Somit blieben drei Pärchen übrig, eine reizende
Großfamilie im Jugendzimmer einer glücklichen Meerschweinchen-Mama. Als die
weniger brave Gymnasiastin die Matura in der Tasche hatte, waren Mami Siggi und
Papa Charlie bereits verstorben und außerhalb Wiens liebevoll vergraben worden,
nachdem der Tiefkühler sie bis zum Begräbnis frisch gehalten hatte.
Nicht haustierliebende Mitmenschen verstehen
so eine Art der Aufbewahrung toter Tiere nicht, und auch der mit Freude
kochende Stiefvater reagierte jeweils verstört auf tiefgekühlte Nagetiere neben
seinen kostbaren Nahrungsmitteln.
Schließlich beschloss die Maturantin, mitsamt
dem Meerschweinchen-Pärchen Jolly und Maronne, sowie der ebenso erworbenen
Löwenkopfkaninchen-Dame Sayoko in das schöne Tirol zu ziehen, um dort die
Glasfachschule zu besuchen. Zu Jolly und Maronne hatte das Mädchen jedoch immer
weniger Bezug, denn Kaninchen Sayoko war etwas liebenswerter und weniger
verschreckt. Außerdem war sie stumm, und die Meerschweinchen mit ihrem
penetranten Gequietsche überforderten die ohnehin schon überforderte
Nestflüchterin in ihrem Erste-Eigene-Wohnung-Chaos. Deswegen wurden sie
manchmal ins Badezimmer gesperrt.
Nach einem Jahr Tirol kam die eigenwillige,
selbsternannte Künstlerin wieder nach Wien und lieferte die Meerschweinchen
erleichtert wieder bei deren Geschwistern, in ihrem Elternhaus ab. Das süße
Kaninchen durfte sich wegen Platzmangel in der neuen Wohnung, fortan ein
wildtiergerechtes Gehege mit anderen Kaninchen und einem Hängebauchschwein
außerhalb Wiens teilen.
Nach einer Phase der Selbstfindung,
Beziehungsbeendung und Wiederfindung der Haustierliebe, nahm die mittlerweile
Keltologie studierende, junge Dame ihren Jolly wieder bei sich auf. Maronne und
Chiara waren bereits über die Regenbogenbrücke gegangen, und die verbleibenden Brüder
Luigi und Jolly hätten sich gegenseitig am Liebsten zerfleischt.
So lebte Jolly noch zwei mehr oder weniger
glückliche Jahre als Einzelgänger in seinem Käfig. Die junge Keltologin hatte
sich zwischenzeitlich auch endlich ihre heißersehnten Katzen in die Wohnung
geholt, und mitsamt neuem Mann an ihrer Seite nur noch wenig Zuneigung für das
Meerschweinchen Jolly Roger - welcher trotz neuem, piratigem Beinamen ein
langweiliger Häuschen-Hocker blieb.
Im Sommer 2010 während einer
Möbel-Umstellaktion (welche sich im Leben des Keltologen-Pärchens zu
regelmäßigen Ritualen etablierten), zeichneten sich jedoch plötzlich Anzeichen
eines baldigen Ablebens des Jolly Rogers ab. Die tränenreichen Befürchtungen
der Studierenden bewahrheiteten sich, und nach sieben Jahren war der Tod dieses
vorletzten Vertreters ihrer Meerschweinchen-Dynastie trauriger als erwartet.
Und hier beginnt auch die eigentliche
Geschichte, begleitet von argen Schuldgefühlen Jolly Roger vernachlässigt zu
haben und dem Vorsatz, er hätte etwas Besseres verdient als seine Vorgänger.
Als Keltologe wird man von allen Seiten
sowieso für verrückt gehalten. Das Themengebiet wird zwar als äußerst
interessant betrachtet, aber die Tatsache es auch ernsthaft zu studieren wird
mit erstaunten Blicken kommentiert. Und der Frage „Was macht man dann damit?“
Eine (von vielen!) aufschlussreiche Antwort auf
diese Frage lautet: Man erweist seinem Meerschweinchen nach „keltischer“
Tradition mit einer Brandbestattung die letzte Ehre.
Doch zuerst wanderte Jolly Roger in einen
Tiefkühlbeutel der Marke „Nehmen wir einfach die Billigsten“ und in weiterer
Folge in das Tiefkühlfach.
Am Wochenende darauf fand nämlich in der
Heimatstadt ihrer Großmutter der sogenannte Bierkirtag statt, zu dem das
Keltologen-Pärchen fahren wollte. Und es wollte die Gelegenheit gleich nutzen,
um Jolly Roger den Weg zu seinen Familienmitgliedern zu bahnen. Oder zumindest
seinen flauschigen Körper zu entsorgen, der im Tiefkühlfach wertvollen Platz
einnahm welcher eigentlich für Pizzen reserviert war.
Einige Wochen zuvor besuchten die zwei
Keltologen die allseits beliebte Veranstaltung namens „Experimentelle
Archäologie“ im Freiluftteil des Niederösterreichischen Ur- und Frühgeschichte
Museums. Eines der Experimente dort sollte Aufschluss darüber bieten, wie eine
Brandbestattung nach eisenzeitlichen Riten abgelaufen war und in welchem
Zustand sich Grabbeigaben nach dem verbrennen befanden. Inklusive Aufbau eines
Scheiterhaufens, Platzieren von Grabbeigaben wie Keramiken, Blumen und so
weiter. Verbrannt wurden tote Katzen, die ein Bauer freundlicherweise zur
Verfügung gestellt hatte, da es in Österreich ziemlich schwer ist legal an
halbwegs große, knochenreiche und vor allem tote Tiere zu kommen.
Nach diesem riesigen, wärmenden Feuer, wurden
Knochenreste und Überbleibsel der Grabbeigaben herausgesucht, besichtigt und
separat bestattet, also platzsparend eingegraben.
Das war also die Vorlage für Jolly Rogers
Bestattung.
Der Plan sah folgendermaßen aus: die
ambitionierte Keltologin wollte irgendwo in der waldviertler Botanik ein
Lagerfeuer errichten, würdig einen Jolly Roger zu verbrennen. Dieser wurde
bereits in eine kleine Schuhschachtel umgebettet. Als Grabbeigabe würde er ein
selbstgefertigtes Keramikgefäß nach eisenzeitlicher Vorlage erhalten. Dieses
wurde zwei Jahre zuvor ebenfalls bei einer „Experimentellen Archäologie“
angefertigt und diente Jolly lange als Trockenfutterschüssel. Hiermit wäre die
Stelle des Gefäßes und des Essens-Vorrats also besetzt gewesen. Weitere
Beigaben sollten aus Blumen und potenziell essbaren Pflanzen bestehen.
Angekommen im hübschen waldviertler Städtchen
stellte sich heraus, dass es schier unmöglich war irgendwo einen Ort zu finden,
an dem man ungestört sein Meerschweinchen verbrennen konnte (abgesehen vom
öffentlichen Grillplatz neben dem Badeteich). Der Notfallplan beinhaltete also
einen Kugelgrill und Omas Terrasse. Die zukünftige Bestatterin kraxelte also
auf den Dachboden um einen, erwarteter Weise alten und rostigen Grill zu
bergen, der Jolly die letzte Ehre erweisen sollte. Zum Vorschein kam jedoch ein
neuer vermutlich ziemlich teurer – weil vom Stiefvater, seines Zeichens
Hobbykoch, gekaufter – Grill in hübschem Rot lackiert.
Kurze Zweifel wurden mit etwas Kirtags-Bier
hinweggespült und Jollys Krematorium gebaut.
Dazu wurden Holzscheite für den Kaminofen im
Haus geholt, sowie einige kleinere Späne zum Anzünden. Jolly Roger in seiner Dead-Man´s-Chest
wurde liebevoll darauf drapiert und zur Sicherheit mit einer halben Flasche
Spiritus übergossen. Irgendwie konnte die junge Dame ihrem lieben Haustier
nicht mehr in die milchigen weil toten Augen schauen.
Jollys eisenzeitliche Tonschalen-Replik wurde
mit Löwenzahn und anderem, undefinierbaren, aber bestimmt leckeren Unkraut
gefüllt – zum Glück wuchs genug davon in den geschätzten hundert Blumentöpfen
der Oma auf der Terrasse.
Mit extra großen „Licht ins Dunkel – Ist da
jemand?“ Streichhölzern wurde der Scheiterhaufen schließlich andächtig
angezündet. Die Stichflamme, welche fast Haare und Bart des Keltologen-Pärchens
angesengt hatte, erlosch bald, und die dicken Holzscheite kokelten nur
zögerlich vor sich hin. Nach weiteren Spritzern Spiritus und der Beigabe von
anderen Grillanzünder-Fabrikaten, war die Schuhschachtel nur noch dünne
Aschefetzen, die in der Sommerluft herumflogen. Jolly Roger lag also
schließlich doch sichtbar auf dem Holz und brach der Studentin das Herz. Sein
hübsches, rotbraunes Fell stellte sich als äußerst brennfreudig heraus. Aber
sobald es verbrannt und Jolly nur noch ein schwarzes Nackt-Meerschweinchen war,
gingen die Flammen wieder ihrem Ende zu.
„Verdammt!!! Auf der „Experimentellen“ haben
wir ganze Katzen verbrannt, wieso schaffen wir es nicht ein blödes
Meerschweinchen zu verbrennen?!“
Verärgert und grübelnd wurden weitere
Grillanzünder in den schönen roten Grill geworfen und eine neue Flasche
Spiritus geöffnet. Dem männlichen Part des Keltologen-Pärchens machte es
sichtlich Spaß herum zu Zündeln, während die Meerschweinchen-Mama kurz vorm
Nervenzusammenbruch stand.
So schön war die Idee der eisenzeitlichen
Brandbestattung gewesen. So bitter das Resultat zweier ratloser Studenten vorm
Kugelgrill.
Schließlich fing alles halbwegs so Feuer, wie
geplant. Meerschweinchen Jolly war auch bald nicht mehr als solches zu erkennen
und der Anblick somit etwas erträglicher.
Nachdem der Scheiterhaufen und Jolly Roger
fast vollständig verbrannt waren, waren die beiden Keltologen doch ein kleines
bisschen stolz auf sich. Mit hoch wissenschaftlichem Blick wurde nun
festgestellt, dass die mit Spiritus- und Grillanzündern getränkten Flammen im
Kugelgrill nicht heiß genug waren um das Tongefäß zu zerstören oder Risse
entstehen zu lassen. Es lag noch vollständig zwischen Asche und Kohle, war
lediglich rußgeschwärzt.
Wenn alles abgekühlt war, wollten die beiden
also die Knochenreste Jolly Rogers einsammeln und in das Gefäß füllen, worin
sie ihn dann irgendwo im Boden eingraben würden...
Aber bis alles abgekühlt war, würde es sicher
noch eine Weile dauern. Also wurde die Zeit genutzt, um sich am Stadtplatz
voller Bierfreunde noch ein, zwei Krügerl zu genehmigen und mit Oma und ihren
Freundinnen zu plaudern.
Nach den ersten erleichterten Schlücken
überfiel ein Platzregen den Kirtag und alle flüchteten unter rettende Zelte
oder Schirme. In dieser ganzen Aufregung, und weil die zwei Keltologe in
Sicherheit und mit Bier versorgt waren, vergaßen sie jedoch auf den Griller auf
der Terrasse... und weitere Regenschauer folgten.
Als es schon fast dunkel und somit recht spät
war, trauten sich die beiden erstmals wieder einen Blick auf die Terrasse zu
werfen. Die ehemalige Meerschweinchen-Mama hätte am Liebsten einen hysterischen
Schreianfall bekommen: der Kugelgrill war bis obenhin mit Regenwasser gefüllt.
Dem nicht genug, war er zuvor offensichtlich übergegangen und die Hälfte der
aufgeschwemmten Asche mit dem Regenwasser quer über die Terrasse in Richtung
Dachrinne geflossen. Das hatte einen grauschwarzen Film am weißen Fliesenboden
hinterlassen.
Verzweifelt beschlossen sie, mit der
Aufräumaktion des armen, verbrannten, ertränkten und weggespülten Jolly Rogers
bis zum nächsten Tag zu warten.
Wenn man nicht weiß ob man lachen oder weinen
soll, ist es am Besten einfach zu lachen und einen Gartenschlauch zur Hilfe zu
holen. Die Keltologin wühlte im Asche-Regen-Gatsch herum und fand tatsächlich
noch Knochen ihres süßen Meerschweinchens, die sie akribisch im Tonschüsselchen
sammelte. Als sie fertig war, holte sie einen Müllsack, in den sie die anderen
unverbrannten Holzscheite und Kohlebrocken füllte. Dann trat ihr Liebster mit
dem Gartenschlauch in Aktion, der den Griller ausspülte, außen abwusch und die
Terrasse abspritzte, während sie mit einem Besen nachhalf alles in die
Dachrinne zu kehren.
Jolly Rogers Überreste samt eisenzeitlicher
Tongefäß-Replik wanderten erneut in einen Plastiksack. Zuvor wurden sie aber
verschwenderisch oft in Alufolie gewickelt. Aufgrund von akuter Zeitnot und dem
Wunsch ihren Zug nach Hause zu erwischen, blieb keine Zeit mehr eine nette
Stelle in der Botanik zu finden, wo man Jolly hätte begraben können. Zumal war
alles von den Regenfällen der letzten Nacht aufgeweicht. Also traten Jolly Rogers sterbliche Überreste
und sein angekokeltes Futterschüsselchen ihre Reise wieder nach Wien an.
Die eindeutig untalentierte Brandbestatterin
stellte das Gefäß, in Alufolie, in Plastiksack im Arbeitszimmer aufs
Fensterbrett. Das nächste Mal, wenn sie irgendwohin kam, wo man es vergraben
könne, würde sie es tun.
Ganz sicher!
Nach einem halben Jahr angewiderten Duldens
dieses Pakets auf dem Fensterbrett, nahm der vernünftige, männliche Teil des
Pärchens Jolly Rogers letzte Ruhestätte an sich...
und warf sie in den Mistkübel.
Shrew you!
Erzblume.